Dienstag, 14. Februar 2017

Editorial Kongress-Brief Gender-Gesundheit (Januar 2017)

Geschlechterspezifische Prägungen finden früh statt und manifestieren Vor-Urteile selbst schon im Kindesalter bei Jungen und – bei Mädchen, die bereits im Alter von fünf Jahren freiwillig zurückstecken, wenn es darum geht, sich etwas zuzutrauen und die eigenen Stärken in die Wagschale zu werfen. Der Teufelskreis aus Eigen- und Fremderwartung nimmt seinen Anfang und lässt Männer später Dank der im Kindes- und Jugendalter erfahrenen "Ermutigung", der daraus resultierenden persönlichen Einschätzung und dem damit verbundenen Auftreten tatsächlich kompetenter erscheinen als Frauen, die häufig mit der gleichen Expertise aufwarten können, sich aber schlechter "verkaufen". Einfache Psycho-Logik. Mit anderen Worten, wir alle sind nicht frei von Erwartungen, die unser Bild vom eigenen oder dem anderen Geschlecht bestimmen. 

Wen wunderts, wenn noch viele alte "Phantom"-Zöpfe die Denkgewohnheiten beeinflussen, vergegenwärtigt man/frau sich, dass die Frauenemanzipation vor spärlichen hundert Jahren ihren Anfang nahm, dass Frauen erst seit diesem Zeitpunkt überhaupt studieren durften (und das durchaus nicht selbstverständlich), dass gleiche Rechte für Männer und Frauen erst nach dem zweiten Weltkrieg in Artikel 3 des Grundgesetzes überhaupt rechtlich verbrieft sind. Bis also die über viele Jahrhunderte entstandenen Prägungen nicht mehr für selbstverständliche "Wahrheiten" gehalten werden, bis offene und versteckte Vorurteile identifiziert und beseitigt sind, wird es noch eine ganze Weile brauchen.

Manchmal hilft nur ein Trick, der zur Neutralität zwingt, der den Blick auf das wirklich Wesentliche lenkt. Um allein das musikalische Können eines Bewerbers bzw. einer Bewerberin für ein Orchester beurteilen zu können, wurde in den USA bereits in den 1970er und 80er Jahren, das Vorspielen hinter einem Sichtschutz eingeführt; später durch einen Teppich oder durch das Ausziehen der Schuhe ergänzt. Voilá, die Chancen für die künftigen weiblichen Orchestermitglieder steigerte sich und heute sind Profi-Musikerinnen keine Ausnahme mehr.

Auch eine wirklich neutrale, um den Gender-Bias bereinigte, Beurteilung von  Krankheitssymptomen scheint (noch) nicht selbstverständlich. Es ist davon auszugehen, dass die Ärzte und Ärztinnen nicht gezielt handelten, wenn sie 45 Prozent der Frauen gegenüber 31 Prozent der Männer keine adäquate Behandlung eines Blutgerinnsels haben zuteil werden lassen und ihre Patientinnen damit ein höheres Sterberisiko hatten, wie dank einer Untersuchung am John Hopkins Hospital in Baltimore (USA) festgestellt wurde. Die Studienleiter empfehlen unterstützende Checklisten, um im Unterbewusstsein verborgene (Vor-)Urteilsstrukturen, in Aus- und Weiterbildung möglicherweise manifest geworden, auszuschließen. Checklisten sorgen seit langem für vermehrte Sicherheit im Flugverkehr, reduzieren Kompetenzgerangel im Cockpit – und kaum ein Passagier würde heute eine Fluggesellschaft in Anspruch nehmen, die auf die Routine des Sicherheitschecks vor dem Take off verzichten würde. Checklisten ersetzen nicht das ärztliche Urteil, können aber vor subjektiven Trübungen bewahren.