Geschlechterspezifische Prägungen finden früh statt und
manifestieren Vor-Urteile selbst schon im Kindesalter bei Jungen und – bei
Mädchen, die bereits im Alter von fünf Jahren freiwillig zurückstecken, wenn es
darum geht, sich etwas zuzutrauen und die eigenen Stärken in die Wagschale zu
werfen. Der Teufelskreis aus Eigen- und Fremderwartung nimmt seinen Anfang und
lässt Männer später Dank der im Kindes- und Jugendalter erfahrenen
"Ermutigung", der daraus resultierenden persönlichen Einschätzung und
dem damit verbundenen Auftreten tatsächlich kompetenter erscheinen als Frauen,
die häufig mit der gleichen Expertise aufwarten können, sich aber schlechter
"verkaufen". Einfache Psycho-Logik. Mit anderen Worten, wir alle sind
nicht frei von Erwartungen, die unser Bild vom eigenen oder dem anderen
Geschlecht bestimmen.
Wen wunderts, wenn noch viele alte
"Phantom"-Zöpfe die Denkgewohnheiten beeinflussen, vergegenwärtigt
man/frau sich, dass die Frauenemanzipation vor spärlichen hundert Jahren ihren
Anfang nahm, dass Frauen erst seit diesem Zeitpunkt überhaupt studieren durften
(und das durchaus nicht selbstverständlich), dass gleiche Rechte für Männer und
Frauen erst nach dem zweiten Weltkrieg in Artikel 3 des Grundgesetzes überhaupt
rechtlich verbrieft sind. Bis also die über viele Jahrhunderte entstandenen
Prägungen nicht mehr für selbstverständliche "Wahrheiten" gehalten
werden, bis offene und versteckte Vorurteile identifiziert und beseitigt sind,
wird es noch eine ganze Weile brauchen.
Manchmal hilft nur ein Trick, der zur Neutralität
zwingt, der den Blick auf das wirklich Wesentliche lenkt. Um allein das
musikalische Können eines Bewerbers bzw. einer Bewerberin für ein Orchester beurteilen
zu können, wurde in den USA bereits in den 1970er und 80er Jahren, das
Vorspielen hinter einem Sichtschutz eingeführt; später durch einen Teppich oder
durch das Ausziehen der Schuhe ergänzt. Voilá, die Chancen für die künftigen
weiblichen Orchestermitglieder steigerte sich und heute sind Profi-Musikerinnen
keine Ausnahme mehr.