Mittwoch, 13. Dezember 2017

Editorial Kongress-Brief Gender-Gesundheit (November 2017)

Was assoziieren Sie, liebe Leserin, lieber Lesser, wenn Sie an "Werbung" denken? Wahrscheinlich: bunt, laut, aufdringlich, um in der Flut der Angebote überhaupt zum Konsumenten, zur Konsumentin durchzudringen?! Das Amtsgericht Gießen verurteilte nun Kristina Hänel, Fachärztin für Allgemeinmedizin, zu 6.000,- € Strafe, auf Grundlage von Paragraph 219a des Strafgesetzbuchs, der die Werbung für Schwangerschaftsabbrüche ausdrücklich verbietet. Die Internetseite Hänels, die Auskunft über das Leistungsspektrum gibt, führt unter der Rubrik "Frauenmedizin" u.a. "Schwangerschaftsabbruch" auf. Diese Zeile ist verlinkt und leitet weiter zu einem recht unspektakulären Formular für den Eintrag der eigenen e-Mail-Adresse, um eine Informationsbroschüre zugeschickt zu bekommen. Zusätzlich lässt sich ein Häkchen bei der Wahl der Sprachen anbringen: deutsch, englisch oder türkisch. Schließlich weist noch ein Satz darauf hin, dass die e-Mail-Adresse nur zum ein-maligen Versand der Broschüre verwendet und nicht gespreichert wird. Werbung geht anders!

Googelt man "Abtreibung", öffnet sich eine Liste: zuerst ein Wikipedia-Eintrag, mit der Definition des Begriffs, gefolgt von der Webseite baby-und-familie.de, betrieben von der Apotheken Umschau. Versetzen wir uns in die Lage einer (jungen) Frau, die ungewollt schwanger ist und sich psychisch nicht im stabilsten Zustand befindet, vielleicht (je nach familiärem bzw. kulturellem Hintergrund oder sozialer Lage) sogar verzweifelt ist. Sie möchte also möglichst anonym und v.a. schnell Informationen über eine kompetente Anlaufstelle, die drängenste Fragen rasch beantwortet und einen Weg aufzeigt – und später vielleicht sogar Perspektiven für das Austragen des Kindes. Sie möchte sich gewiss nicht durch die komplex for-mulierte Prosa von baby-und-familie fädeln, die ihr den moralischen Zeigefinger in Wort und Bild auf die Brust setzt. Die in der Google-Liste weiter unten aufgeführte Seite Abtreibung.de bietet wenigstens das direkte Gespräch an, ohne Drohkulisse der gesetzlichen Regelung und der impliziten Unterstellung, sich schon beim googeln des "Mordes" schuldig zu machen. Hänels Angebot, sich zu informieren, wirkt sachlich kühl, aber eben nicht unbeteiligt, da sie als Medizinerin persönlich für Erfahrung steht. Dennoch: der Paragraph 219a ist eindeutig.

Pikant, dass Günter Annen die Allgemeinmedizinerin angezeigt hat. Als aggres-siver Abtreibungsgegner ist er v.a. durch seine Webseite babycaust.de berühmt berüchtigt. Die Assoziation zu Holocaust ist Programm und die recht dilettantisch gestaltete Seite nur etwas für starke Nerven bzw. Geübte; denn neben einer schwarzen Liste, die Ärzte führt, die einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen, werden entsprechende Fotos für den moralisierenden Appell missbraucht.

Die Welle der Empörung, die sich nun analog und digital Bahn bricht, zeigt, dass augenscheinlich dringender Diskussionsbedarf wengistens zum Paragraphen 219a besteht. Ein Schwangerschaftsabbruch darf Verhütung nicht ersetzen und sollte nur allerletzte Option bleiben. Das ist wohl den meisten Frauen bewusst. Das Internet ist für diejenigen, die sich noch niemandem offenbaren wollen oder können erste Informationsquelle. Hier aber gilt es, sich zu den Hilfsangeboten erst einmal robust durchwühlen. (Unter dem Begriff "Geschlechtskrankeiten" geht das schneller). Wie wäre es denn mit einem zentralen Angebot der Beratungsstellen oder gar der BZgA, das stets als erster Google-Eintrag auftaucht? Es wäre konsequent, um die nun als Straftat verurteilte "Werbung" überflüssig zu machen.

Mittwoch, 15. November 2017

Editorial Kongress-Brief Gender-Gesundheit (Oktober 2017)

Also, die Sondierungsgespräche zu Gesundheit und Pflege sind durch. Abgesehen von ein paar Allgemeinplätzen, denen nun wirklich keiner widersprechen kann und wird, ist noch nicht viel herausgekommen. Jamaika hin oder her, auf den Koalitionsvertrag nicht nur zu diesem Thema darf man gespannt sein. Und was wird wohl für eine geschlechtersensible Medizin herauskommen, die eigentlich als State-of-the-art in der Versorgung angekommen sein sollte? In der letzten Legislatur haben CDU/CSU und SPD 2013 immerhin die folgende Absicht im Koalitionsvertrag formuliert: „Wir wollen die jeweiligen Besonderheiten berück-sichtigen, die sich aus der Frauen- und Männergesundheitsforschung insbe-sondere für die gesundheitliche Versorgung und die Erarbeitung von medi-zinischen Behandlungsleitlinien ergeben.“ (Koalitionsvertrag S. 82)

In Baden-Württemberg einigen sich Bündnis 90/ Die Grünen und die CDU 2016 auf eine Präzisierung: "Gesundheitsverhalten, Erkrankungen, Reaktionen auf Medi-kamente und Symptomatiken sind geschlechtsspezifisch. Wir werden daher die geschlechtsspezifische Gesundheitsforschung ausbauen, das Differenzbewusst-sein an medizinischen Fakultäten fördern, eine geschlechtsspezifische Gesund-heitsberichterstattung einführen und unabhängige Beratung fördern." (Koalitionsvertrag S. 88)

Ich wiederhole, wir dürfen gespannt sein. Mit Blick auf die Entwicklung bedarf es für die Implementierung einer Medizin, die geschlechtsspezifische Aspekte be-rücksichtigt, noch einiger Ermutigung in Teilen der Selbstverwaltung. Leitlinien, Aus- und Weiterbildung sind durchaus noch nicht so standardisiert, wie man/frau es sich wünschen würde. Eine Weiterbildung mit der Zusatzbezeichnung Gender-Medizin, wie sie an der Österreichischen Ärztekammer erworben werden kann (Diplom Gender-Medicine), scheint hier noch in weiter Ferne. Inwieweit vermehrt prüfungsrelevante Fragen in die IMPP-Generierung integriert werden, bleibt abzuwarten. Ein prüfungsrelevantes Modul in den Curricula der medizinischen Studiengänge ist aktuell wohl nicht in Sicht. Hier können Studierende auf den Modellstudiengang der Charité zurückgreifen oder auf die Vorlesungen bzw. Seminare ihrer Fakultäten, die angeboten werden oder vielleicht auch nicht. In einem kürzlich geführten Gespräch mit einem Medizinstudierenden stellte sich heraus, dass ihm der Begriff Gender-Medizin fremd war. Das sollte eigentlich nicht passieren; denn der Bedarf an diesem Wissen ist im medizinischen Ver-sorgungsalltag durchaus vorhanden. 

Warum dauert das so lang? Erste Erkenntnisse zu Geschlechterunterschieden beim Herzinfarkt gibt es seit den 1980 er Jahren – 2016 schließlich finden sie Eingang in die Nationale Versorgungs-Leitlinie Chronische KHK. Zugegeben, andere Fachgesellschaften sind schneller. Welchen Hebel könnte es seitens der Politik also geben, um hier das Tempo zu beschleunigen? Ich traue es mich schon fast nicht mehr zu sagen... Eine Top-down Lösung wird kaum zu vermeiden sein; denn aktuell wird das Thema überwiegend von Ärztinnen voran gebracht, die aber nur selten in den Entscheidungsgremien der Selbstverwaltung zu finden sind – ebenso wenig wie ihre hierzu forschenden männlichen Kollegen. Eine gesetzlich verbindliche geschlechterparitätische Besetzung wäre z.B. so ein Hebel, der für eine rasche Veränderung der Verhältnisse sorgen könnte. (Handlungsempfehlungen: https://www.bundeskongress-gender-gesundheit.de)

Montag, 23. Oktober 2017

Editorial Kongress-Brief Gender-Gesundheit (September 2017)

"Die Würde des Menschen ist unantastbar". Der inzwischen wohl berühmteste Pflege-Azubi Deutschlands, Alexander Jorde, zitiert während der Sendung "Wahlarena" Artikel 1 des Grundgesetzes, um Angela Merkel auf eine substantielle Antwort auf die Zustände in der Pflege, v.a. der Altenpflege festzunageln. Das klappt nur eingeschränkt, denn die Berufspolitikerin entgegnet verklausuliert und umgeht das klare Bekenntnis. Er schafft es aber, dass das Thema auch in "Hart aber fair" beleuchtet wird. Chapeau! Jorde ist einer der (immer noch) wenigen jungen Männer, die den Pflegeberuf gewiss nicht des Geldes wegen erlernen, sondern, wie von der Kanzlerin angeregt, aus altruistischen Gründen. Noch in der Ausbildung muss er feststellen, dass das Pflegepersonal nicht nur mau bezahlt wird, sondern dass auch in die Pflege selbst kaum investiert wird. Nicht der Patient scheint im Mittelpunkt zu stehen, sondern die Bilanz und immer weniger Pflegerinnen und Pfleger sind für immer mehr zu Pflegende verantwortlich. Auf die physische und psychische Überlastung folgt die Krankheit. Resultat: noch weniger Pflegepersonal.

Wie kommt es, dass Pflege zwar in Sonntagsreden ernst genommen wird, sobald es aber zum Schwur kommt und es um Euros geht, schwindet die konkrete Wertschätzung? Die aktuelle OECD-Studie zur Geschlechtergleichheit, zeigt (wie gewohnt), dass Deutschland beim Gender-Pay-Gap – und später Renten-Gap – eher die hinteren Plätze einnimmt. Wiederholt wird betont, dass das Studium von Natur- oder Ingenieurswissenschaften Frauen helfen könnte, dieses Dilemma gar nicht erst entstehen zu lassen. Schön wär's ja; aber zwischen Medizinerinnen, die ja "das Richtige" studiert haben, und ihren männlichen Kollegen tun sich z.T. erhebliche Gehaltsdifferenzen auf. Die Erfahrung zeigt auch, dass der Verdienst in Branchen mit zunehmendem Frauenanteil sinkt. 

Ist gute Pflege nun ein Nice-to-have in einer der reichsten Volkswirtschaften dieser Welt, das möglichst nichts kosten soll? Und wo die Fachkräfte – meist Frauen – wenig kosten (sollen), weil  z.B. an der Werkbank eines Autoherstellers Produkte zum Weiterverkauf entstehen, am (Alten)Pflegebett aber nicht? Jedenfalls werden für mich volkswirtschaftliche Instrumente noch nicht sichtbar, die gute Pflege, zufriedenes Pflegepersonal im Wertschöpfungskontext definieren. "Wertschöpfung" enthält den Begriff "Wert", der mit einer Tätigkeit entsteht. Vielleicht ließe sich der besondere Wert von Pflege indirekt einpreisen? Es könnte doch z.B. volkswirtschaftlich einen Wert haben, wenn sich Angehörige darauf verlassen können, dass die Eltern in guten Händen sind, so dass Töchter oder Schwiegertöchter Vollzeit arbeiten und ausreichend in die Rente einzahlen könnten. Auch für die jetzt 50 bis 60 jährigen Wähler wäre es ein beruhigendes Gefühl, nicht dem gleichen Zukunft entgegen zu gehen, das sie aktuell in Fernsehbeiträgen dokumentiert sehen.

Pflege und Altenpflege gehören auch weiterhin auf die gesundheitspolitische Agenda, aber nicht nur dorthin. Der beschränkende Blick auf gewachsene (Finanzierungs)Strukturen hilft nicht weiter. Hoffen wir auf junge Auszubildende, die sich engagieren und keine Scheu haben, Missstände coram Publico und Kamera zu benennen. Junge Männer tun sich hier traditionell vielleicht leichter...

Montag, 11. September 2017

Editorial Kongress-Brief Gender-Gesundheit (August 2017)

Angela Merkel will junge Menschen ermutigen, den Pflegeberuf zu ergreifen. Das ist gut. Der Versuch, die geringe Bezahlung mit der persönlichen Erfüllung, die diese Arbeit am und für den Menschen mit sich bringt, aufzuwiegen, ist zweifelhaft. Man staunt, wie weit sich Spitzenpolitiker, von der Realität entfernen können. Zunächst stellt sich die Frage ob und wann die Bundeskanzlerin das letzte Mal ein Krankenhaus oder ein Altenpflegeheim wirklich von innen gesehen hat. Nicht die Gesellschaftsräume, sondern z.B. ein Zimmer der Pflegestufe 3. Die Ausübung des Pflegeberufes ist ohne eine grundsätzliche Bereitschaft, kranke bzw. alte Menschen in allen Lebensbereichen (!) zu betreuen und zu versorgen, verbunden mit den täglichen körperlichen und psychischen Herausforderungen gar nicht denkbar. Oder anders formuliert: die intrinsische Motivation muss auf jeden Fall sehr hoch sein, da gegenwärtig weder Geld noch Prestige locken.

Nächstenliebe – nennen wir es mal so – als Lohnersatz ins Feld zu führen, leugnet die längst überfällige Notwendigkeit, dieser Berufsgruppe eine angemessene Bezahlung und gesellschaftliche Anerkennung zukommen zu lassen. Als Subbotschaft ließe sich das Folgende interpretieren: Pflege wird in der kollektiven Wahrnehmung immer als noch Akt der Barmherzigkeit gewertet; in früheren Zeiten für Gottes Lohn von mildtätigen Nonnen geleistet. Eine so formulierte Aufforderung seitens der Regierungschefin mutet leicht zynisch an, zeigt sie doch den geringen Stellenwert, den dieser Bereich augenscheinlich in der Politik (außerhalb der Gesundheitspolitik) und z.T. auch in der Gesellschaft hat. Es ist schwer vorstellbar, dass z.B. künftige KFZ-Mechaniker oder Mitarbeiter der Müllabfuhr in dieser Form angeworben würden. Vor allem für die Letzt genannte Berufsgruppe wird häufig die körperliche Schwerstarbeit ins Feld geführt, die eine gute Bezahlung und gute Konditionen erforderlich machen. Das ist richtig. Die Zahlen des BKK-Gesundheitsberichts von Juli 2017 belegen allerdings, dass der Krankenstand unter Pflegekräften signifikant höher ist als der in anderen Berufsgruppen. Im Vergleich verdoppeln sich die Krankentage, die auf psychische Erkrankungen oder Muskel- und Skelettkrankheiten zurückzuführen sind. Männliche Pflegekräfte leiden zudem unter der psychischen Belastung stärker als ihre Kolleginnen, bedürfen sie doch zu 15 Prozent mehr eines stationären Aufenthaltes.

Spärliche Bezahlung, die nach den aktuellen und vermutlich künftigen Bedingungen, nach den geleisteten Berufsjahren Altersarmut nach sich ziehen kann und z.T. befristete Arbeitsverhältnisse (32,9 Prozent in der Altenpflege) tragen auch nicht zu einem sicheren Lebensgefühl bei.
Will man den Pflegenotstand bewältigen und die rund 200.000 offenen Vollzeitstellen, die laut verschiedener Studien bis 2025 zu erwarten sind, mit qualifiziertem Personal besetzen, wird man nicht umhin kommen, an der Lohnschraube nach oben zu drehen und strukturell an den Arbeitsbedingungen zu arbeiten. (http://www.bkk-dachverband.de/publikationen/bkk-gesundheitsatlas)

Dienstag, 22. August 2017

Editorial Kongress-Brief Gender-Gesundheit (Juli 2017)

Es wäre doch mal eine psychologische Studie wert – oder vielleicht gibt es sie sogar schon –, um zu untersuchen, warum junge Frauen sich freiwillig in die Situation begeben, wie auf dem Viehmarkt begutachtet und bewertet zu werden. Die neue Show "Curvy Supermodel" macht sich nicht wirklich für ein neues Bewusstsein stark, das auch Normalgewichtige oder einen etwas üppigeren Körperbau eine positive Anerkennung zugesteht; vielmehr ist es der neue Pranger an dem zu stehen, sich junge Frauen bewerben, um dann Gefahr zu laufen, vor einem Massenpublikum gedemütigt zu werden. Das war und ist so bei "Germanys next Topmodel", wo junge Mädchen und Frauen mit barschem Feedback nicht etwa gefordert oder gar gefördert werden, sondern schlimmstenfalls traumatisiert. Die Erniederung jener Frauen, die sich  wahrscheinlich aufgrund ihrer Körperformen im Laufe ihres jungen Lebens ohnehin mit dem negativ konnotierten Image fülliger Formen herumschlagen müssen, finden in dieser Sendung mitnichten die ersehnte positive Bestätigung. Es geht wie in anderen Contest-Shows (die auch junge Männer betreffen) nicht um einen echten Wettbewerb, sondern um die "Jury" selbst, um Vermarktung der Show und damit um (Werbe)–Gelder. Die "Kandidatinnen" sind nur Kanonenfutter, ohne es zu merken oder es vielleicht wahr haben zu wollen.

Wie es um das Menschenbild eines Landes bestellt ist, lässt sich u.a. an den Breitenmedien ablesen, z.B. an Werbung, Fernsehserien und Shows. Verlieren Frauen ihren gesellschaftlich definierten "dekorativen Wert" kann es im deutschen Fernsehen schnell vorbei sein mit einer qualifizierten Karriere, wie eine Studie der Universität Rostock unter der Schirmherrschaft von Maria Furtwängler zeigt. 80 Prozent der non-fiktionalen Unterhaltungssendungen werden von Männern präsentiert und Frauen jenseits der 50 tauchen als Protagonistinnen im Verhältnis von einer Frau zu drei Männern auf. Es bleibt zu hoffen, dass das italienische Fernsehen in Deutschland nicht zum Vorbild wird, das Moderatorinnen ab 35 entweder nicht mehr zulässt oder zu entstellenden "Schönheitsoperationen" zwingt. Überschreiten Frauen die 50 scheinen sie zum unbekannten und unsichtbaren Wesen zu werden. In Portugal sah sich eine Frau (50) gezwungen, ihr Recht auf ein erfülltes Sexualleben mit Hilfe des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu erstreiten. Nach einem missglückten operativen Eingriff wurde eine bereits zugebilligte Entschädigung von einem portugisischen Gericht mit dem Hinweis auf ihr Alter und bereits vorhandene Kinder wieder kassiert.

Gerade in Zeiten, wo eine starke Migration aus Kulturen stattfindet, die aus westlicher Perspektive ein (milde gesagt) "mittelalterliches Frauenbild" vertreten, wo z.T. Burka oder Vollverschleierung Frauen jeglichen Alters im öffentlichen Raum unsichtbar machen, sollten wir ein Auge darauf haben, welches Frauen- und damit Menschenbild in unserem Alltag tatsächlich gelebt wird. Die Erfahrung von Gewalt und Unterdrückung auf der Flucht oder im Flüchtlingsheim, durch Fremde oder den eigenen Mann hat in der gesamten Flüchtlingspolitik bislang eine eher untergeordnete Rolle gespielt. Es ist daher begrüßenswert, dass jetzt Mediatorinnen ausgebildet werden und jenen Frauen an die Seite gestellt werden, die in der Hackordnung ganz unten stehen und von ihrer Würde als Mensch (noch) gar nichts wissen.

Editorial Kongress-Bried Gender-Gesundheit (Juni 2017)

Ob man in Zukunft von einem erfolgreichen G20-Gipfel 2017 sprechen kann oder sich eher an die Gewaltexzesse erinnert, wird die Umsetzung der Beschlüsse in der Praxis zeigen. Angesichts der aktuellen weltpolitischen Situation braucht es eine wirklich positive Einstellung, um den Blick überhaupt in die Zukunft zu richten. Vielleicht ist der Zweckoptimismus von Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) gar keine so schlechte Strategie. Ein "Meilenstein zur Stärkung der Globalen Gesundheit", ist laut Gröhe dank des G20-Gipfels erreicht. Das lässt hoffen. Ziel ist es, "eine starke und ausreichend finanzierte Weltgesundheitsorganisation" aufzubauen und "eine bessere Kontrolle des Antibiotika-Einsatzes bei Mensch, Tier und in der Umwelt" zu erreichen; dazu sollen "Anstrengungen in der Forschung und (die) Entwicklung neuer Impfstoffe und Arzneimittel" für eine gesündere Weltbevölkerung sorgen.

Keine Frage! Impfstoffe und wirkungsvolle Antibiotika, die dringend gebraucht werden, um z.B. die wieder auftretende Tuberkulose in den Griff zu bekommen sind unverzichtbar. Gesundheit sollte sich aber nicht allein auf die Heilung von Krankheiten beschränken, sondern eben auf Gesundheit. Tuberkulose, durch Bakterien ausgelöst, entfaltet seine verheerende Wirkung dank schlechter bis katastrophaler Lebensverhältnisse. Enge, mangelnde Hygiene, schlechte Ernährung und schwere Arbeit sorgen für ein schwaches Immunsystem und leichte Ansteckung. Die in Romanen und Opern elegant verbrämte Krankheit kostete Mitte des 19. Jahrhunderts statistisch etwa jedem vierten Mann das Leben und gehörte während der beginnenden Industrialisierung in Europa zum Alltag vorwiegend der armen Bevölkerung.

Neben dem Appell an die Forschung könnten Überlegungen zur Verhütung von Krankheiten Signale z.B. in Richtung Wirtschafts- und Entwicklungspolitik setzen. Eine funktionierende Kanalisation trägt beträchtlich zur Volksgesundheit bei – menschenwürdige Arbeitsbedingungen auch. Bildung und die gesundheitliche Förderung von Mädchen und Frauen v.a. in Entwicklungsländern stärkt nicht nur deren Position, sondern hilft Kindersterblichkeit und die Ansteckung sexuell übertragbarer Krankheiten zu reduzieren. Allein die Vermeidung von frühen Schwangerschaften erhöht die Lebenserwartung von Frauen und die Möglichkeit, der Armut zu entkommen; denn wenn diese Mädchen ihre Ausbildung fortsetzen können und zum Einkommen der Familie beitragen, vermehrt sich auf lange Sicht auch der Wohlstand einer Gesellschaft.  Mit der Verbesserung der Gesundheit der Weltbevölkerung haben wir also eine Mammutaufgabe vor uns, die sich eben nicht nur auf die Bekämpfung von Krankheiten beschränken sollte. Um so wichtiger, dass der Bundesgesundheitsminister nun verstärkt auf die Erkenntnisse aus dem Bereich Global Health setzen möchte. Eine Chance, um sich die Expertise von Fachmännern und – von Fachfrauen zunutze zu machen. Eine Chance, um aus unterschiedlichen Perspektiven weltweit auf Männer- und Frauengesundheit zu blicken.

Editorial Kongress-Brief Gender-Gesundheit (Mai 2017)

In Notfällen ist der weibliche Kommunikationsansatz scheinbar nicht der passende. Wenn wirklich schnell gehandelt werden muss, sind Männer laut einer randomisierten Studie des Universitätsspitals Basel offenbar im Vorteil. Um nach einem Herzkreislaufstillstand wertvolle Zeit nicht zu vergeuden, sondern für die Reanimation zu nutzen, braucht es Effizienz, die sich durch schnelle Entscheidungen und durch eine rasche Umsetzung auszeichnet. Klare und eindeutige Anweisungen sind das Gebot der Stunde, ebenso wie eine eindeutige Aufgabenverteilung. Hier kann man/frau sich vorstellen, dass es durchaus auch mal ruppig zugehen kann und sich schnell ein hierarchisches Gefüge bildet. Nicht alle Beteiligten werden dann gleichberechtigt in die Diskussion um das beste Handeln einbezogen. Ein typischer Top-down-Führungsansatz, mit dem viele Männer vertrauter sein und in bestimmten Situationen besser zurecht kommen mögen als Frauen. Einer übernimmt die Verantwortung und damit auch das Risiko des Handelns.

Tatsächlich zeigt die Erfahrung vieler Führungskräfte, unterschiedlicher Branchen, dass Mitarbeiterinnen, die mit mehr Verantwortung oder einer höheren Position betraut werden sollen, diese neue Herausforderung häufig gar nicht begrüßen und sogar ablehnen. Sich qua Verantwortung zu exponieren und gelegentlich auch zu sagen wo es lang geht, fällt vielen – trotz guter Ausbildung – schwer. Zu groß scheint die Furcht, sich unbeliebt zu machen und kritisiert zu werden. Liegt es am Geschlecht, an der Erziehung (noch immer?), die schon bei kleinen Mädchen die Zaghaftigkeit fördert – oder an beidem? Wie weit dagegen ein junges Mädchen kommen kann, wenn ihr v.a. durch den Vater genügend Vertrauen und auch Hilfe entgegen gebracht wird, zeigt sich in der jungen Einhandseglerin Laura Dekker: nämlich um die Welt. Mit ihrem Segelboot hat sie im zarten Alter von 16 Einsamkeit und Stürmen getrotzt, fremde Länder "erobert" und viele Probleme an Bord selbständig gelöst.

Die Studie aus Basel ist auf jeden Fall wichtig und aufschlussreich, nur sollten nicht die falschen Schlüsse daraus gezogen werden, etwa nach dem Motto: Frauen seien im Notfall eben doch das "schwache" Geschlecht. Vielmehr sollte weiterführenden Fragen nachgegangen werden. Zum Beispiel der, wie Ärztinnen im echten Leben agieren und nicht im Studiensetting, das auch als Prüfungssituation wahrgenommen werden könnte. In kompetitiven Situationen, also auch in Prüfungen, schneiden weibliche Teilnehmer häufig schlechter ab – auch weil Selbstzweifel am eigenen Können oft im Weg stehen.

Eine andere, ältere Untersuchung hat zum Beispiel gezeigt, dass Ärztinnen Patienten, unabhängig vom Geschlecht gleich lang reanimieren, während ihre männlichen Kollegen, sich für Frauen weniger Zeit für eine  Wiederbelebung nehmen.

Vielleicht kann man/frau ja voneinander lernen und nützliche Kombination aus den unterschiedlichen Kommunikationsmustern entwickeln; auch für Notfälle.

Dienstag, 11. April 2017

Editorial Kongress-Brief Gender-Gesundheit (März 2017)

"Frauen in einer sich wandelnden Arbeitswelt: die Hälfte der Welt bis 2030" so das Motto des diesjährigen Weltfrauentages und "Equal Pay Days" am 08. März.

Manche und manchen mag es aus unterschiedlichen Gründen ärgern, dass gleichberechtigte Teilhabe von Frauen am gesellschaftlichen, am politischen und am beruflichen Leben immer noch ein Thema ist und dass die stets gleichen Forderungen jedes Jahr aufs Neue, nur in Nuancen variiert, wiederholt werden. Für Einige mag es ein Ärgernis sein, dass uns Lohngerechtigkeit, eine geschlechterparitätische Beteiligung in Führungspositionen in Wirtschaft, Politik oder Forschung immer noch beschäftigen müssen, da sie eben immer noch keine Selbstverständlichkeit sind und daher immer wieder neu eingefordert werden müssen. Für Andere mag das Ärgernis darin bestehen, dass das Thema immer noch nicht vom Tisch ist, da sie es aus Überzeugung für überflüssig und belächenswert halten. Denn Frauen kann aus dieser Perspektive eine wirkliche Teilhabe, also "die Hälfte der Welt", einfach nicht zugestanden werden, da sie schließlich weniger arbeiteten (Kinderbetreuung, Pflege von Angehörigen etc. mal beiseite), nicht bereit seien die gleichen Qualifikationsschritte zu nehmen, weniger Führungspotential hätten usw.. Gerade die jüngste Forderung, immerhin in der F.A.Z. veröffentlicht, eines pensionierten Chefarztes nach einer Männerquote im Medizinstudium zeigt, wie frisch und dünn die Schicht im kollektiven Bewusstsein ist, echte Gleich-Wertigkeit ohne Wenn und Aber anzuerkennen. Um so mehr freut die Stellungnahme der Bundesvertretung der Medizinstudierenden (bvmd), die sich klar gegen ein solches Ansinnen ausspricht und auf einen profunden Bewusstseinswandel hoffen lässt.

Vielleicht ist gerade die angelaufene Fernsehserie "Charité" geeignet, noch einmal die Entwicklung nicht nur in der Medizin vor rund 130 Jahren zu rekapitulieren, sondern auch die der Geschlechterrollen im Krankenhausalltag. Diakonissen und weltliche "Wärterinnen" waren quasi auf dem Gelände der Klinik interniert und hatten Dienste zu leisten, die heute arbeitsrechtlich schlicht nicht mehr zulässig sind – die Diakonissen für Gottes Lohn, die Wärterinnen für kleines Geld. Mit diesem "Fundament" haben die Pflegeberufe in Bezug auf Anerkennung und Entlohnung heute noch zu ringen. Und als die Filmheldin Ida Lenze äußert, selbst Medizin studieren zu wollen, was im Deutschland Ende des 19. Jahrhunderts Frauen verboten war, und sich heimlich in Vorlesungen für Medizinstudenten schleicht, erntet sie laut Drehbuch ungläubiges Gelächter seitens Ihrer Wärterinnen-Kolleginnen oder Hohn seitens des Professors, mit der Begründung, dass Frauen zu einem solchen Studium schlicht nicht fähig seien. Aus heutiger Zuschauersicht mag sich angesichts dieser antiquierten und durchaus nicht frei erfundenen Vorstellungen Spott oder Empörung regen. Einige, v.a. ältere Leserinnen, kennen vielleicht solche "Einschätzungen" noch aus dem realen Leben und Studium; ohne dass sie die Möglichkeit gehabt hätten, wirklich angemessen zu reagieren, um nicht einen erfolgreichen Abschluss zu riskieren. Also, alles noch nicht so lange her und auch heute noch sind Äußerungen, die die Fähigkeiten von Frauen qua Zuordnung zum Geschlecht herabsetzen, nicht vollkommen ausgeschlossen. Auf den 106. Weltfrauentag werden noch viele folgen bis die An-Erkennung der Gleichwertigkeit von Männern und Frauen wirklich selbstverständlich und dann eben kein Thema mehr ist.

Donnerstag, 9. März 2017

Editorial Kongress-Brief Gender-Gesundheit (Februar 2017)

Aschermittwoch ist vorbei und der 1. April noch fern; doch die "Beruf und Karriere"-Redaktion der F.A.Z. (04.03.17) schien zum Scherzen aufgelegt: "Wir brauchen eine Männerquote für Ärzte". Kein Witz. Der Autor des Gastbeitrags, pensionierter Chefarzt und Radiologe, fordert eine Männerquote für Studienanfänger der Medizin und sorgt sich um ausreichende medizinische Versorgung, angesichts des kontinuierlich steigenden Anteils weiblicher Medizinstudenten.

Wie bitte? Eine Quote für junge Männer muss her, sobald absehbar ist, dass sich mehr Frauen für ein Medizinstudium immatrikulieren als Männer? Gegner einer (Frauen)quote würden an dieser Stelle mit dem Primat der Qualifikation argumentieren. Und jetzt wird's schwierig; denn nach dem aktuellen Auswahlverfahren erhalten mehr junge Frauen einen der begehrten Plätze, weil sie in einem Schulsystem, dem ein männlich kompetitives System zugrunde liegt, schlicht das bessere Abitur und damit einen besseren Numerus Clausus vorweisen können. 
Der Autor löst das Dilemma, indem er das jahrzehntelang widerspruchslos akzeptierte, NC-Verfahren infrage stellt. Folgt man dieser Logik, scheint die Qualifikation allein durch den Notendurchschnitt nicht mehr aussreichend, sobald Frauen zur ernsthaften Konkurrenz werden. Ein ausführliches Testverfahren, das Fähigkeiten wie "Zuwendung" und "Zuverlässigkeit" prüft, erscheint dem Verfasser geeigneter, da aus seiner Sicht "Medizin (...) eine Erfahrungs- und weniger eine Naturwissenschaft" ist. 

Ein durchaus sinnvoller Vorschlag, um die wirklich zum Heilberuf Befähigten zu bekommen. Aber Vorsicht! In diesem Test kommen gemeinhin dem weiblichen Geschlecht zugeordnete Eigenschaften zum Tragen – die gute Ärzte und Ärztinnen ohnehin kennzeichnen sollten. Wenn in Befragungen männliche Studierende angeben, dass überwiegend Karriere- und Prestigegründe ausschlaggebend bei der Entscheidung für ein Medizinstudium seien und Frauen eher vom Gedanken helfen zu wollen, geleitet sind – wem gäbe ein solcher Test dann wohl den Vorzug? 

Das im Beitrag beschriebene Szenario, dass überwiegend Frauen zu den Studiumsabbrechern zählten, häufig nicht oder nur halbtags im Arztberuf tätig seien und damit den ärztlichen Notstand wenigstens mit zu verantworten hätten, blendet strukturelle Hintergründe konsequent aus. Ein Blick auf die Zahlen der Bundesärztekammer zeigen, dass mit einem geringen Überschuss sich überwiegend männliche Ärzte in berufsfremden Tätigkeitsbereichen tummeln. Hauptverantwortlich für einen beruflichen Ausfall von 10 Prozent der Ärztinnen gegenüber 2 Prozent der Ärzte ist und bleibt jedoch die Elternzeit, die 2015 von 6.722 Ärztinnen gegenüber 205 Ärzten bestritten wurde. Einige Kliniken in der Republik bieten ihren Mitarbeitern ein dem 24/7-Betrieb angepasstes Betreuungsangebot an. Der Unfallklinik Murnau gelingt es damit seit den 1970er Jahren, die Fluktuation in der Ärzteschaft zu verringern und dabei positive Zahlen zu schreiben. 
Auch der Blick über den nationalen Tellerrand macht deutlich, dass die hiesigen Strukturen kein unveränderbares Naturgesetz sind. Beispiel: dank flacher Hierarchien und einer selbstverständlicheren Akzeptanz gegenüber Familien rechnen sich 57,4 Prozent der deutschen Teilnehmerinnen des Biomedical Exchange Programs in den USA deutlich bessere Karrierechancen aus als in Deutschland (2 Prozent). Eine Umfrage des Hartmannbundes von 2014 bestätigt diese beiden Faktoren als größte Hürden für eine weibliche Medizinerkarriere. 

Aber über eine geschlechterparitätische 50:00 Quote ließe sich ja mal nachdenken; sie sollte konsequenterweise auch auf spätere Karrierestufen anwendbar sein, z.B. bei der Vergabe von Chefarztpsosten und Professuren, ebenso wie von Funktionärsposten in den Gremien der Selbstverwaltung und in Fachverbänden. Die Spielregeln jedoch einseitig ändern zu wollen, um prophylaktisch das Verlieren zu verhindern, ist ein Ausdruck von Schwäche.

Dienstag, 14. Februar 2017

Editorial Kongress-Brief Gender-Gesundheit (Januar 2017)

Geschlechterspezifische Prägungen finden früh statt und manifestieren Vor-Urteile selbst schon im Kindesalter bei Jungen und – bei Mädchen, die bereits im Alter von fünf Jahren freiwillig zurückstecken, wenn es darum geht, sich etwas zuzutrauen und die eigenen Stärken in die Wagschale zu werfen. Der Teufelskreis aus Eigen- und Fremderwartung nimmt seinen Anfang und lässt Männer später Dank der im Kindes- und Jugendalter erfahrenen "Ermutigung", der daraus resultierenden persönlichen Einschätzung und dem damit verbundenen Auftreten tatsächlich kompetenter erscheinen als Frauen, die häufig mit der gleichen Expertise aufwarten können, sich aber schlechter "verkaufen". Einfache Psycho-Logik. Mit anderen Worten, wir alle sind nicht frei von Erwartungen, die unser Bild vom eigenen oder dem anderen Geschlecht bestimmen. 

Wen wunderts, wenn noch viele alte "Phantom"-Zöpfe die Denkgewohnheiten beeinflussen, vergegenwärtigt man/frau sich, dass die Frauenemanzipation vor spärlichen hundert Jahren ihren Anfang nahm, dass Frauen erst seit diesem Zeitpunkt überhaupt studieren durften (und das durchaus nicht selbstverständlich), dass gleiche Rechte für Männer und Frauen erst nach dem zweiten Weltkrieg in Artikel 3 des Grundgesetzes überhaupt rechtlich verbrieft sind. Bis also die über viele Jahrhunderte entstandenen Prägungen nicht mehr für selbstverständliche "Wahrheiten" gehalten werden, bis offene und versteckte Vorurteile identifiziert und beseitigt sind, wird es noch eine ganze Weile brauchen.

Manchmal hilft nur ein Trick, der zur Neutralität zwingt, der den Blick auf das wirklich Wesentliche lenkt. Um allein das musikalische Können eines Bewerbers bzw. einer Bewerberin für ein Orchester beurteilen zu können, wurde in den USA bereits in den 1970er und 80er Jahren, das Vorspielen hinter einem Sichtschutz eingeführt; später durch einen Teppich oder durch das Ausziehen der Schuhe ergänzt. Voilá, die Chancen für die künftigen weiblichen Orchestermitglieder steigerte sich und heute sind Profi-Musikerinnen keine Ausnahme mehr.

Auch eine wirklich neutrale, um den Gender-Bias bereinigte, Beurteilung von  Krankheitssymptomen scheint (noch) nicht selbstverständlich. Es ist davon auszugehen, dass die Ärzte und Ärztinnen nicht gezielt handelten, wenn sie 45 Prozent der Frauen gegenüber 31 Prozent der Männer keine adäquate Behandlung eines Blutgerinnsels haben zuteil werden lassen und ihre Patientinnen damit ein höheres Sterberisiko hatten, wie dank einer Untersuchung am John Hopkins Hospital in Baltimore (USA) festgestellt wurde. Die Studienleiter empfehlen unterstützende Checklisten, um im Unterbewusstsein verborgene (Vor-)Urteilsstrukturen, in Aus- und Weiterbildung möglicherweise manifest geworden, auszuschließen. Checklisten sorgen seit langem für vermehrte Sicherheit im Flugverkehr, reduzieren Kompetenzgerangel im Cockpit – und kaum ein Passagier würde heute eine Fluggesellschaft in Anspruch nehmen, die auf die Routine des Sicherheitschecks vor dem Take off verzichten würde. Checklisten ersetzen nicht das ärztliche Urteil, können aber vor subjektiven Trübungen bewahren. 

Freitag, 13. Januar 2017

Editorial Kongress-Brief Gender-Gesundheit (Dezember 2016)

Was hat sich im Rückblick auf das Jahr 2016 politisch und im System für das Thema Gender-Gesundheit getan?

Mit Blick auf die Politik ist v.a. der Koalitionsvertrag zwischen Bündnis90/Die Grünen und der CDU in Baden-Württemberg zu nennen, der sich ausdrücklich Frauen- und Männergesundheit widmet und sich vornimmt, z.B. "geschlechtsspezifische Gesundheitsforschung aus(zu)bauen (und) das Differenzbewusstsein an medizinischen Fakultäten (zu) fördern".

Auf vielen Fachkongressen werden den Fragen zu einer geschlechtsspezifischen Gesundheitsversorgung bzw. Medizin zunehmend Slots eingeräumt, die als steter Tropfen helfen, das Bewusstsein für eine geschlechtersensible Medizin zu vergrößern und – die nach wie vor ausgeprägten – Beißreflexe zu reduzieren. Denn noch immer führt die spezielle Zuordnung „Gender“ zum Beispiel vor dem Wort „Medizin“ zu einer 1:1 Übersetzung in „Frauen-Medizin“, die mit radikal-emanzipatorischen Bestrebungen assoziiert, reflexartig abgelehnt wird. Vielleicht ist das einer unter vielen Gründen, die z.T. zu einer noch recht zögerlichen Akzeptanz und Verbreitung der Erkenntnisse aus der Gender-Medizin führt. Je nach Indikation lassen sich durchaus Unterschiede beobachten: während die Nationale Versorgungsleitlinie zur Behandlung einer Depression die Diskussion um mögliche geschlechtsspezifische Besonderheiten 2015 durchaus aufnimmt, hat eine entsprechende Berücksichtigung beim Krankheitsbild koronarer Herzerkrankungen erst im Januar 2016 Eingang in die nationale Leitlinie gefunden. In den ESC Pocket Guidelines aus dem Jahr 2011 wird noch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Männer und Frauen gleich zu diagnostizieren und zu behandeln seien. Im Vergleich zum Krankheitsbild Depression, wo eine geschlechtersensible Betrachtung erst Anfang der 2000er Jahre verstärkt Gegenstand der Forschung wurde, hatten die Erkenntnisse zum "weiblichen Herzinfarkt" einen längeren Weg bis zur Leitlinie; denn hier reicht die Forschung bis in die 1980er Jahre.

Auch auf der internetbasierten Suche nach Universitäten, die im Curriculum ihrer medizinischen Studiengänge Lehrangebote zu Gender-Medizin haben, ist die Ausbeute spärlich. Neben der Charité Berlin, die mit dem Institut für Geschlechterforschung in der Medizin u.a. auch die Grundlage für ein Mastermodul „Gender-Medizin“ geschaffen hat, gibt es Kooperationen wie zwischen den Universitäten Duisburg Essen und Münster sowie Initiativen zu Ringsvorlesungen wie in Aachen oder Ulm. Die Wissensvermittlung ist auf diesem Gebiet dem individuellen Engagement einzelner (meist) Professorinnen zu danken. Die Forderung des Deutschen Ärztinnenbundes (DÄB), die Curricula an den medizinischen Fakultäten an die Forschungsergebnisse in der Gender-Medizin (merke: eine Medizin die geschlechtsspezifischen Besonderheiten Rechnung trägt!) anzupassen, scheint mir ein ambitionierter und guter Plan für das Jahr 2017!